• Silvester 2020 – ein etwas anderer Lauf
    2020 ist vieles anders. Auch der Silvesterlauf in Backnang kann wegen der Corona-
    Pandemie nicht wie gewohnt, sondern nur virtuell stattfinden. Jede/r läuft eine
    beliebige Strecke über 2,5 / 5 oder 10 Kilometer und meldet die erzielte Zeit online
    an die Backnanger Zeitung. So kommen stattliche 855 Teilnehmer zusammen. Viele
    laufen „just for fun“, einige legen sich mächtig ins Zeug.
    Auch meine Tochter Isabell und ich nehmen an diesem Silvesterlauf teil. Auf der
    Original-Strecke in Backnang. Mit Abstand, ganz Corona-konform. Der Start soll in
    Etappen erfolgen. Ausschlaggebend ist der von jedem selbst einzuschätzende
    Trainings-Zustand. So haben wir uns darauf geeinigt, dass Isabell exakt 8 Minuten
    Vorsprung erhalten soll. Das Finish kann so auf dem letzten Kilometer ausgetragen
    werden. So war der Plan. Wer die Ziellinie am Rathaus zuerst erreicht, hat
    gewonnen. Am Sonntag vor Silvester hatte Isabell das Rennen mit 16 Sekunden
    Vorsprung für sich entschieden. Für eine Revanche ist alles vorbereitet. Es soll ein
    spannendes Familien-Duell werden.
    Voll motiviert geht es an Silvester gegen 15:00 Uhr nach Backnang. Zu unserer
    Überraschung sind bereits einige Läuferinnen und Läufer unterwegs. Selbst Jürgen
    Baumann hat es sich in diesem besonderen Jahr nicht nehmen lassen, die Sportler
    zu motivieren und durch die Klänge der Kuhglocke für ein bisschen Wettkampf-
    Atmosphäre zu sorgen.
    Isabell geht auf die Strecke. Sie hat sich einiges vorgenommen: die persönliche
    Bestzeit von letztem Sonntag will sie noch einmal unterbieten. Eine schwierige
    Aufgabe für mich.
    Mit 8 Minuten Rückstand geht es für mich los. Ich muss schnell angehen, um Isabell
    einzuholen. Die erste Runde ist auch bald geschafft. Und Jürgen Baumann feuert
    mich an, zur 2. Runde die Marktstraße hoch. Jetzt ist es schon schwieriger, ein
    gleichmäßiges, flüssiges Lauftempo beizubehalten. Und von Isabell ist nichts zu
    sehen. Anscheinend hat auch sie ein gutes Tempo gefunden.
    Eingangs der 3. Runde verabschiedet sich Jürgen mit seiner Motivations-Kuhglocke.
    Mist. Gerade jetzt hätte ich einen Schub gebrauchen können. Mit schwerem Atem
    geht es die Marktstraße hoch. Das kurze Stück zum Schwarzmarkt hat ein
    angenehmes Gefälle. Hier lässt es sich gut bergab rollen. Aber nur für kurze Zeit.
    Schon geht es wieder leicht bergan, die Uhlandstraße hoch. Und weiter bis zur Kehre
    in die Grabenstraße. Von Isabell ist immer noch nichts zu sehen. So langsam
    bekomme ich Zweifel, ob mein Vorhaben an diesem Tag gelingen kann. Da bemerke
    ich, dass mich ein Auto verfolgt. „Den lässt Du jetzt nicht vorbei“, sage ich mir.
    Schließlich gilt hier Schritttempo. Und ich bin im Renntempo unterwegs. Dann geht
    es über die neue Aspacher Brücke, und schließlich biege ich rechts in die Talstraße
    ab. Auf diesem Abschnitt geht es richtig zäh. Jeden Schritt muss ich kämpfen.
    Gefühlt komme ich kaum voran. Dann endlich kommt die Bleichwiese in Sicht. Jetzt
    sind es noch ungefähr 3 Kilometer bis ins Ziel. Und plötzlich sehe ich Isabell. Mit
    ungefähr 500 Meter Vorsprung. Auf der anderen Seite der Murr leuchtete ihr gelbes
    Shirt. Schnell ist sie unterwegs. Aber dies weckt meinen Kampfgeist. Das letzte Mal
    geht es die Marktstraße hoch. Ich fange zu keuchen an. Eigentlich geht nichts mehr.
    Aber diese letzte Runde muss ich noch durchhalten. Und eigentlich sollte ich wieder
  • Sicht auf meine Tochter haben. Aber – sie ist weg. Sie wird doch nicht aufgegeben
    haben? Nein. Isabel ist eine Kämpfernatur. Genauso wie ich. Bestimmt hat auch sie
    mich gesehen und hat noch einmal das Tempo erhöht. Zum letzten Mal renne ich
    durch die Grabenstraße und über die Aspacher Brücke. Und da, weit vorne auf der
    Talstraße sehe ich ihr gelbes Shirt. Oje, das sind noch gut 300 Meter. Ob ich Isabell
    noch einholen kann? Auf dem zähen Teilstück kann ich kaum aufholen. Aber dann,
    wie ein Magnet zieht mich die Bleichwiese an. Und vorne läuft Isabell bereits über
    den Steg. Aber auch ich habe ihn gleich erreicht. Nun hat sie mich tatsächlich
    bemerkt, das spüre ich. Sie läuft was sie kann. Wir beide sind am Anschlag. Auf dem
    Rückweg zur Sulzbacher Brücke sind wir gleichauf. Vater und Tochter. Wer wird
    gewinnen? Es folgt ein scharfer Linksknick, dann geht es zum letzten Mal hoch zum
    Rathaus. Ich bin vorne. Ich dreh mich nicht um. Isabell ist dicht hinter mir. Jetzt
    durchziehen, bis zur Ziellinie. Und endlich, nach 46:31 Minuten bin ich im Ziel, und fix
    und fertig. Kurz danach läuft Isabell über die Linie: mit 54:46 Minuten hat sie
    tatsächlich eine neue persönliche Bestzeit erreicht. Aber ihren Vater hätte sie gern
    hinter sich gelassen. Meine Revanche ist geglückt. Das war ein hartes Stück Arbeit.
    Kurze Zeit später plagen mich Gewissensbisse: hätte ich meiner Tochter generös
    den Vortritt lassen sollen? War ich zu ehrgeizig und habe ich ihr dadurch für einen
    Moment den Spaß am Laufen genommen? Nein, bestimmt nicht. Zwischen uns steht
    es jetzt 1:1. Ich habe es nicht für möglich gehalten, 8 Minuten Vorsprung aufzuholen.
    Ich kann es tatsächlich. Und im neuen Jahr 2021 werden wir wieder Gelegenheiten
    finden, gemeinsam zu laufen und auch wieder gegeneinander anzutreten. Vielleicht
    zusammen mit Corinna, Isabells Schwester. Es bleibt spannend. Ich freue mich
    darauf.